Du solltest dich mal
ernsthaft mit ihr auseinander setzen, statt in irgendwelche
unangebrachten kindlichen Spitzen zu verfallen.«
»Was schlägst du vor, was wir jetzt machen sollen?«, fragte sie
aufbrausend.
»Gar nichts«, entgegnete er. »Ich höre noch ein bisschen Musik,
dann möchte ich schlafen.« Er stand auf und ging hinüber ins
Wohnzimmer.
Was für eine miese, kleine Szene! Mann musste an Marion denken, wie
wohl er sich in ihrer Nähe gefühlt hatte. Er legte eine
Beethoven-Symphonie ein und stülpte sich die Kopfhörer über. In dem
Bewusstsein, dass er Gefahr lief einzuschlafen, streifte er die
Schuhe von den Füßen, lockerte den Gürtel und legte sich auf das
Sofa.
Als sein Handy sich meldete, war es 21.55 Uhr und er erschrak ein
wenig, weil er hoffte, es sei Marion mit der Bitte, dass er
vorbeikommen möge.
Doch es war sein Chef Kolthoff und als Erstes sagte er
idiotischerweise: »Es ist nichts passiert. Ich dachte nur, ich sage
dir Bescheid, ehe andere mit der Nachricht kommen.«
»Was ist denn los?«
»Ziemann ist tot.«
»Wie? Willst du mich … Tot? Ein Infarkt, oder was?«
»Nein. Er hat sich erschossen.«
»Hör mal … Das ist nicht möglich! Ich habe gegen sechs noch mit ihm
gesprochen. Er war putzmunter.«
»Es schmeißt uns alle«, murmelte Kolthoff düster. »Niemand kapiert
es. Aber es ist so.«
»Warte mal, warte mal, häng nicht ein. Wo … wo soll er das gemacht
haben?«
»Bei sich zu Hause in seiner Wohnung.«
»Was sagt denn seine Frau?«
»Jochen, niemand weiß etwas. Die Nachricht ist ganz frisch. Ich bin
eben erst selbst angerufen worden und dachte, ich sage es dir
gleich.«
»Ja. Danke. Das verstehe ich nicht. In seiner Wohnung?«
»Bleib da weg! Ich würde dich gern morgen früh sehen.«
»Ja, ja«, sagte Mann und warf das Handy auf den Boden.
Mit einem leisen Knarren öffnete sich die Tür und Katharina
streckte ihren Kopf herein. Sie wirkte verschlafen, hatte wohl
schon im Bett gelegen.
»Ist irgendetwas?«
»Ziemann ist tot. Kolthoff sagt, er habe sich erschossen.« Mann
hockte auf dem Boden, er hatte die Knie angewinkelt und starrte auf
den Teppich.
»Oh«, sagte sie lang gezogen. »Das tut mir aber Leid, Schatz.
Erschossen? Ja, so was!« Sie kam zu ihm und kniete sich neben ihn.
»Das ist ja furchtbar.« Sie versuchte ihm die Arme um die Schultern
zu legen, aber er zuckte zurück, als sei sie eine Fremde.
»Ich muss hier raus, ich brauche Luft«, stammelte er hohl und stand
auf.
»Das ist doch unvernünftig. Bleib hier. Ich bin doch bei
dir.«
»Ich will raus!« Bei den ersten Schritten schwankte er, blieb dann
stehen, zog den Gürtel seiner Hose fest, suchte seine Lederjacke.
Dann seine Schuhe. »Ich brauche Luft«, wiederholte er. »Bin gleich
wieder da.«
Katharina saß auf dem niedrigen Couchtisch und starrte ihn an. »Was
willst du denn draußen?«
Mann reagierte nicht mehr, öffnete die Wohnungstür und ließ sie
krachend hinter sich zuschlagen.
Ziemann, das ist nicht fair!
Er trat aus dem Haus und blinzelte in die Lichter der kleinen
Restaurants und Kneipen auf der anderen Straßenseite. Eine
Straßenbahn fuhr vorbei, Autos folgten.
Ziemann, das ist ausgesprochen scheiße! Das kannst du nicht machen!
Mann ging wie ein Schlafwandler auf die Fahrbahn, ein
Motorradfahrer schoss heran, bremste energisch und schrie
irgendetwas sehr wütend. Mann hob entschuldigend die Hand. Er
erreichte die andere Straßenseite und wandte sich nach links. Dort
gab es eine kleine italienische Kneipe. La
Famiglia hieß der Laden und er war gern dort.
Er blieb gleich vorne und setzte sich auf einen Hocker vor den
schmalen Tresen. Plötzlich registrierte er, dass die leisen
Gespräche der Gäste an sein Ohr drangen, dass er wieder auftauchte
aus dem See, in den er so tief gesunken war.
Das Mädchen hinter der Bar fragte freundlich: »Was möchtest
du?«
»Einen Whisky, wenn ihr einen habt.«
»Diesen hier?«, fragte sie und hielt ihm eine Flasche vor das
Gesicht.
»Schon gut«, nickte er. »Einen Vierfachen.«
Er griff nach dem Glas, verschüttete die Hälfte und trank den Rest.
Er spürte den Alkohol wie einen warmen Ball im Bauch und
beobachtete seine zitternden Hände.
»Noch einen?«, fragte das Mädchen.
»Nein, nein«, lehnte er entschlossen ab. Er bezahlte und verließ
die Kneipe wieder.
Ich fang jetzt nicht an zu saufen wie mein Vater!, dachte er. Es
schmeißt mich, aber ich will nicht saufen, nur um weich zu fallen.
Ziemann, du hast ein gottverdammtes Talent, mein Leben
durcheinander zu bringen. Seit ich dich zum ersten Mal gesehen
habe, fahre ich Achterbahn. Und ich habe Achterbahnen noch nie
gemocht.
Er sah, dass Katharina im dritten Stock das Wohnzimmerfenster
geöffnet hatte. Sie wirkte vor dem Licht wie ein Scherenschnitt und
blickte auf ihn herunter.
Er fummelte seinen Schlüsselbund aus der Tasche und schloss das Tor
zum Hof auf. Er hakte die Holzflügel des Tores in die Halterungen,
ging weiter zum Auto, startete es und ließ es dann durch die
Durchfahrt rollen. Kolthoff, ich lasse mir nicht verbieten, zu
Erich zu fahren … Vor Ziemanns Haus standen mehrere
Einsatzfahrzeuge, zwei Streifenwagen, zwei BMW mit Blaulichtern auf
den Dächern, der kleine Lkw der Tatortleute. In der Wohnung unten
rechts brannten viele Lichter, die Haustür war geöffnet.
Langsam ging Mann hinein, er traute seinen Beinen noch
nicht.
Ein Unformierter kam ihm entgegen und blaffte: »Wo wollen Sie
hin?«
»Staatsanwalt Mann. Ich bin Ziemanns Partner«, sagte er. »Ist er …
ich meine, ist er schon weg?«
»Nicht dass ich wüsste. Wollen Sie jemanden von Kapital sprechen?
Ich kann einen rausrufen.«
»Ja«, nickte Mann.
Der Uniformierte schob die Wohnungstür auf und sprach in den Flur.
Dann kam ein Mann aus der Wohnung, groß, hager, schmal, mit
stechenden dunklen Augen.
»Sie sind Jochen Mann? Ja, ich habe von Ihnen gehört. Schlimme
Geschichte. Aber einwandfrei Suizid. Kann man nichts
machen.«
»Weiß man, warum?«
»Keine Ahnung. Kein Brief, keine sonstige Nachricht. Hat sich mit
seiner Dienstwaffe erschossen.«
»Was ist mit Erna? Ich meine, seiner Frau?«
»Die ist drin. Im Wohnzimmer. Sie können zu ihr. Vielleicht hilft
das. Kommen Sie.« Der Hagere stieß die Wohnungstür auf und ging in
den Flur. »Einfach geradeaus«, sagte er. »Unser Arzt ist bei
ihr.«
Viele Leute quirlten umeinander, stießen aber niemals zusammen,
arbeiteten leise, schweigend. Rechts, daran erinnerte sich Mann,
ging es in die Küche. Links die erste Tür stand weit auf und ein
greller Lichtschein fiel heraus. Er zwang sich, in das Zimmer zu
blicken, und sah für den Bruchteil einer Sekunde, dass Ziemann mit
dem Oberkörper auf der Platte eines kleinen hellen Schreibtisches
lag.
Jemand bat gedämpft: »Nimm ihn noch einmal aus diesem Winkel. Und
dann, ganz groß, die rechte Hand.«
Ein anderer sagte: »Die Streifenwagen können schon mal
fahren.«
Die Stimme einer Frau: »… in der Rechtsmedizin Bescheid geben. Sie
sollen sofort anfangen, nicht erst morgen früh.«
Dann drückte Mann die Tür am Ende des Ganges auf. Erna Ziemann saß
in einem uralten Ledersessel, ein Mann kniete vor ihr und hielt
ihre Hand. Sie sprachen beide kein Wort.
Mann räusperte sich.
Erna Ziemann schlug die Augen auf und lächelte kurz, als sie ihn
erkannte.
Der Arzt richtete sich auf und fragte leise: »Darf ich fragen, wer
Sie sind?«
»Es ist gut.« Erna Ziemann streckte ihm ihre Hand entgegen und Mann
ergriff sie, hielt sie fest und setzte sich auf die
Sessellehne.
»Ich bin sofort gekommen«, sagte er hilflos.
»Ich habe ihr etwas zur Beruhigung gespritzt. Aber es wäre gut,
wenn jemand bei ihr bliebe.«
»Kein Problem«, nickte Mann.
»Und jemand müsste zu einer Apotheke gehen. Ich habe da auf den
Tisch ein Rezept hingelegt, das Medikament ist wichtig. Gibt es
eigentlich Kinder?«
»Eine Tochter«, antwortete Erna Ziemann klar und deutlich. »Aber
sie lebt in Amsterdam.«
»Ich hole das Medikament«, entschied Mann.
Im Flur erkundigte er sich bei einem Uniformierten, wo die nächste
Apotheke sei.
»Sie meinen eine, die Nachtdienst hat? Wartense mal. Müsste auf der
Oranienstraße sein.«
Mann wollte sich beeilen und verfuhr sich prompt. Endlich fand er
eine Apotheke mit Nachtdienst. Er schellte, das Licht im
Verkaufsraum ging an, eine junge, verschlafene Frau kam und öffnete
eine winzige Luke in der Tür. Mann gab ihr das Rezept. Sie
betrachtete es gründlich, als könne sie nicht lesen, und trödelte,
öffnete verschiedene Schubladen, sah wieder auf das Rezept,
entschied sich für ein Regal, nahm eine weiße Packung und brachte
sie ihm. Er bezahlte und machte sich auf den Rückweg.
Vor Ziemanns Haus sah er den Mann zum zweiten Mal. Er stand hinter
einem geparkten Auto und starrte auf das Gebäude, als würde es ihm
etwas erzählen. Er bewegte sich kaum, sein schmaler Körper wiegte
sich leicht vor und zurück und er trug wieder diesen verschlissen
aussehenden Trenchcoat.
Mann überlegte nicht lang, sondern ging strikt auf ihn zu: »Ich
möchte wissen, wie Sie heißen.«
»Mein Name ist Brauer, Gisbert Brauer. Verfassungsschutz.« Er hatte
eine weiche, angenehme Stimme.
»Und warum sind Sie hier?«
»Weil man mir sagte, dass Erich Ziemann sich erschossen
hat.«
»Wer, zum Teufel, ist ›man‹?«
»Jeder, Herr Mann. Zum Bespiel die Junge
Welt. Gutes Blatt, die Redaktion hat keine Angst. Die haben den
toten Erich Ziemann schon im Internet.«
»Aber, warum stehen Sie hier, warum gehen Sie nicht einfach herein
und reden mit den Kollegen?«
»Ich bin sozusagen eine beobachtende Behörde, eine begleitende
Institution. Und – ich will Sie nicht von der Arbeit
abhalten.«
»Das ist keine Arbeit, es ist …«
»Es ist ziemlich übel, ich weiß das. Kümmern Sie sich nicht um
mich, ich werde nicht stören.«
Mann nickte verwirrt und wandte sich zum Eingang des Hauses. Zwei
Männer kamen ihm mit einer Blechwanne zwischen sich
entgegen.
In der Wohnung befand sich nun nur noch der Arzt. Er lächelte auf
Erna Ziemann herunter. »Ich muss jetzt auch weg«, sagte er. »Sie
sollten so schnell wie möglich Ihren Hausarzt
konsultieren.«
»Ja, ja«, murmelte sie.
»Wie oft?«, fragte Mann und hielt das Medikament hoch.
»Alle zwei Stunden eine.« Der Mediziner packte seine Tasche
zusammen und verließ mit einem freundlichen Kopfnicken den
Raum.
»Ist Erich …?«, fragte sie. Ihr Gesicht war weiß und
teigig.
»Sie haben ihn hinausgebracht«, nickte Mann. Er setzte sich auf das
Sofa ihr gegenüber.
»Von wem hast du es erfahren?«, fragte sie.
»Kolthoff.«
»Ah, ja.« Sie griff nach dem kleinen Kissen neben sich und legte es
sich auf den Schoß. »Ich fühle mich wie betrunken. Das ist nicht
gut. Das sind diese Spritzen, die sie den alten Leuten geben, wenn
die ausflippen.«
»Soll ich deine Tochter anrufen?«
»Das hat schon jemand getan. Sie hat gesagt, sie fährt gleich los.
Sie wird gegen Mittag hier sein, denke ich.«
»Möchtest du etwas trinken? Wasser, Kaffee oder Tee? Sag mir, was
du willst.«
»Wasser. Ich habe einen ganz trockenen Mund. Das kommt bestimmt
auch von diesen ekelhaften Spritzen.«
Mann stand auf und ging in die Küche. Im Kühlschrank fand er eine
Flasche Wasser. Er goss ein Glas voll und brachte es Erna.
»Möchtest du auch etwas essen?«
»Nein … Ich kam rein, ich war oben bei der jungen Frau, der mit dem
Trinker«, sie sprach zu sich selbst, sie erzählte sich selbst die
Geschichte, »ich kam rein und sah ihn da am Schreibtisch. Und ich
dachte, er ist eingeschlafen. Aber er war nicht eingeschlafen.«
Plötzlich richtete sie sich kerzengerade auf und fragte empört:
»Hat er dir gesagt, dass er gehen will?«
»Nein, Erna, nein. Wir haben noch telefoniert. So gegen sechs. Er
war gut drauf, richtig fröhlich. Wir haben nur kurz geredet wegen
meiner Protokolle, und er hat gesagt, er bekäme gleich
Besuch.«
»Ja, er hatte mich gebeten, Tee für ihn und den Besucher zu
kochen.«
»Du weißt nicht, wer es war?«
»Nein. Aber sie haben den Tee getrunken. In den Tassen waren noch
Reste, als ich runterkam. Erich hat sie in die Küche getragen, die
kleine Kanne war leer.«
»Hast du die Tassen schon ausgespült?«, fragte er
schnell.
»Nein. Wieso? Ich kann doch nicht spülen, wenn Erich …«
»Schon gut«, murmelte Mann hastig. Er lief wieder in die Küche, die
Tassen und die kleine Kanne standen auf einem Ablaufbrett neben dem
Spülbecken. Mann riss Schubladen auf, um irgendetwas zu finden, in
das er das Geschirr einwickeln konnte. Schließlich packte er jedes
Stück einzeln in einen Gefrierbeutel und trug die drei Teile hinaus
zu seinem Wagen.
Der Mann vom Verfassungsschutz stand immer noch hinter den
geparkten Autos und beobachtete ihn, gelassen und stumm. Mann legte
die Tüten in den Kofferraum. Dann ging er wieder zurück.
Erna Ziemann erschauerte, als wäre ihr kalt. »Das kann er doch
nicht machen. Er kann doch mit mir reden. Er hätte doch mit mir
reden können!« Ihr Gesicht verzog sich zu einer grotesken Maske und
sie begann klagend zu weinen. Dabei schaukelte ihr Körper vor und
zurück. Laut verfluchte sie ihren Erich.
Nur langsam beruhigte sie sich wieder und Mann nahm eine der
Tabletten und das Wasserglas und bat sie, die Pille zu schlucken.
Aber sie wollte nicht, sie begann wieder zu schreien, lauter und
wütender noch als zuvor.
Plötzlich stand eine junge Frau in der Tür zum Flur und sagte
zaghaft: »Die Wohnungstür war auf.«
»Kommen Sie nur herein«, nickte Mann. Ihre rechte Gesichtshälfte
war blau und rot und das Auge zugeschwollen.
»Mein Gott, Erna!«, sagte sie und ließ sich auf die Knie neben dem
Ledersessel nieder. »Das ist ja so furchtbar.«
»Sie muss eine Tablette nehmen«, beharrte Mann.
»Ach, das machen wir doch, was Erna?«, sagte die junge Frau
zuversichtlich.
Endlich schluckte Erna Ziemann die Tablette und war ein paar
Minuten lang still. Sie sah sich in dem Zimmer um, als habe sie es
noch nie gesehen, und seufzte: »Ach, Corinna, Schätzchen. Dass ich
dich habe.« Dann griff sie ein Papiertaschentuch und schnäuzte sich
kräftig: »Kann mir jemand sagen, warum er das gemacht
hat?«
»Niemand kann das«, murmelte Corinna. Sie sah Mann an. »Rauchen
Sie?«
»Mein Tabak liegt in der Küche«, erklärte Erna sachlich.
»Drehen kann ich nicht, das weißt du doch«, sagte Corinna. Mann
zündete eine Zigarette an und reichte sie der Frau über den
Tisch.
»Er war so froh, Junge, dass er dich kennen gelernt hat.«
»Ja«, nickte Mann und fühlte sich elend.
Sie glitt zurück in ihr Meer aus Kummer, aber nun weinte sie leise,
wiegte sich wieder vor und zurück. Irgendwann schlief sie ein und
begann sogar zu schnarchen.
»Ich nehme an, das Medikament ist ein richtiger Hammer«, seufzte
Mann.
»Das ist auch gut so«, nickte Corinna.
»Wie ist das eigentlich abgelaufen?«
»Erna kam so um halb sechs rauf zu mir und wir haben geredet. Ich
hatte in der letzten Zeit Schwierigkeiten mit meinem Mann. Nun ist
er weg … Erna und ich haben uns darüber unterhalten, ob ich mir
einen Job besorgen soll und so. Sie erwähnte, dass Erich unten sei
und Besuch habe. So gegen acht, glaube ich, sagte sie: Ich gehe
eben runter und hole meinen Tabak. Dann ging sie und plötzlich
hörte ich sie nur noch schreien. Das war so furchtbar, mein Gott!
Ich bin sofort runtergerannt. Sie stand neben Erich und hat ihn
geschüttelt. Und da war viel Blut und sie schrie, er soll aufstehen
und nicht so einen Scheiß machen. Dann habe ich die Bullen
gerufen.«
»Und kein Wort, dass Erich irgendwie deprimiert war oder dass das
ein ganz besonderer Besucher war? Gefährlich vielleicht?«
»Wieso gefährlich? Nein, Erich hatte oft Besucher. Er arbeitete ja
viel von zu Hause aus.«
»Also, der Besucher kommt. Sie trinken Tee, den Erna ihnen noch
bereitet hat. Der Besucher geht und Erich schießt sich in den
Kopf.«
»Ja, genau«, bestätigte Corinna ernsthaft, als sei das die einzig
logische Abfolge der Ereignisse.
»Das ist völlig verrückt«, murmelte Mann.
»Hör mal, du musst nicht die ganze Zeit hier bleiben. Es ist halb
fünf, die Nacht ist fast herum.«
»Was ist, wenn dein Mann nach Hause kommt?«
»Der kommt nicht mehr, der ist wahrscheinlich bei seiner Mutter in
Marzahn.«
»Wenn sie wach wird, muss sie sofort eine neue Tablette nehmen. Und
wenn irgendetwas ist, ruf den Hausarzt.«
»Ja, klar, bei dem bin ich auch in Behandlung. Mach dir keine
Sorgen … Wer bist du eigentlich?«
»Ich bin Staatsanwalt, ich habe mit Erich bei dem Attentat
zusammengearbeitet.«
»Ach, Erna hat von dir erzählt. Gibst du mir deine
Telefonnummer?«
»Hier ist meine Karte«, sagte Mann. Als er in seinem Auto saß,
spürte er die Kühle des Morgens und fragte sich, wohin er fahren
sollte. Einmal mehr entschied er sich für den Grunewald. Er bemühte
sich, leise zu sein, aber er stolperte vor dem Eingang. Als er die
Tür aufschloss, stand John da und sah ihn erschrocken an. »Du
siehst aus wie ein Gespenst.«
»Ziemann hat sich erschossen«, stieß Mann aus und unvermittelt
liefen ihm Tränen über das Gesicht.
John wusste nicht, wer Ziemann war, aber im Grunde war das
gleichgültig. Er nahm Mann an die Hand und führte ihn in den Salon.
»Setz dich auf die Couch, ich hole dir einen Kognak.«
»Keinen Alkohol«, winkte Mann ab und vergrub sein Gesicht in einem
muffig riechenden Kissen. Er spürte, dass sich John in einen Sessel
setzte und ihn still betrachtete.
Irgendwann schlief Mann ein.
Er wachte schweißgebadet auf, wusste aber nicht, was er geträumt
hatte. Wo John gesessen hatte, saß jetzt Tante Ichen.
»Junge«, fragte sie, »was ist passiert? Was hat mir John da
erzählt?«
Sie trug ihren ›Büroschmuck‹. Dezent, wie sie es nannte. Ein
Brillant an der rechten Hand, einer an der linken, einer als
Brosche gearbeitet. Und es mussten insgesamt sechs oder acht Karat
sein. Sie wiederholte ihre Frage, weil Mann noch immer wirkte, als
sei er nicht von dieser Welt. »Warum hat er sich
erschossen?«
»Das weiß keiner.«
»Und wie geht es nun weiter? Ich meine, mit dir?«
»Auch das weiß ich nicht. Es ist schon nach eins. Ich muss zu
meinem Chef.«
»Wer ist denn jetzt dein Chef?«
»Immer noch derselbe. Kolthoff, Jugendkriminalität.« Während er das
sagte, wurde Mann klar, dass er sich selbst nicht mehr sicher war,
ob das noch stimmte.
Mühsam und stockend erzählte Mann nun genau, was letzte Nacht
passiert war. Er schloss: »Ziemann war so vital, Tante Ichen, so
lebhaft, und er … ich dachte, er sei jemand, dem das Leben Spaß
macht. Und er … ach Scheiße!«
Tante Ichen war diejenige, die es aussprach: »Kann es denn nicht
sein, dass er sich gar nicht selbst umbrachte, sondern umgebracht
wurde?«
»Wie soll das gegangen sein?«, fragte er zurück. »Und
warum?«
»Na ja, warum … Weil er vielleicht anders als andere gedacht hat?
Wenn er zum Beispiel dachte, er könnte etwas beweisen, auf das
diese Spezialstaatsanwälte, die die Bankgesellschaft untersuchen,
nicht gekommen sind?«
Mann erwiderte nichts darauf.
Er rasierte sich nicht, sondern wechselte nur die Wäsche und
verließ dann das Haus, in dem er sich immer noch zu Hause
fühlte.
In Kolthoffs Büro hatte sich eine große Runde eingefunden, die
heftig diskutierte. Mann stand in der Tür und sagte:
»Entschuldigung. Ich komme später wieder.«
»Bleib da, Jochen«, sagte Kolthoff schnell. »Haut ab, Leute, wir
machen nachher weiter.«
Als sie allein waren, setzte Mann sich in einen kleinen Sessel:
»Tut mir Leid, ich bin erst um fünf ins Bett gekommen.«
»Ja, ich weiß. Du warst doch noch bei Ziemann.«
»Ich musste«, entgegnete Mann. »Wir waren so etwas wie ein
Team.«
Sein Chef nickte. »Und? Ist dir irgendetwas aufgefallen?«
»Eigentlich nichts. Aber er hatte kurz vor seinem Tod einen
Besucher. Kein Mensch weiß bisher, wer das war. Auch seine Frau
nicht. Haben die Spurenleute was gefunden?«
»Ich weiß doch auch nicht viel. Sie sagen, er hat selbst
geschossen, nach Lage der Fingerabdrücke auf der Waffe.«
»Sie waren schnell, aber nicht gründlich«, meinte Mann tonlos. »Die
Kollegen haben zwei Teetassen und ein Teekännchen übersehen. Ich
habe sie im Kofferraum. Was passiert jetzt mit mir?«
»Zuerst interessiert mich, wie es dir geht?«
»Wieso ist das wichtig?« Er hatte es nie gemocht, wenn Kolthoff so
väterlich tat, obwohl er wusste, dass das durchaus ehrlich gemeint
war.
»Glaubst du, das sei mir egal?«
»Entschuldige. Das war ein bisschen viel die letzten Stunden. Wie
weit sind die Amerikaner?«
»Sie haben Unflat gesät und geben jetzt zögerlich zu, dass der
Israeli wohl nicht gemeint war. Doch bis sie abziehen, wird es wohl
noch ein paar Stunden dauern, diese Erkenntnis muss noch von ihren
Vorgesetzten abgesegnet werden. Der israelische Botschafter ist
jedenfalls schon wieder zurück in der Stadt.« Kolthoff starrte
hinaus in die Bäume. »Ich habe lange nachgedacht. Ob es gut ist,
wenn du jetzt Urlaub nimmst. Das habe ich wieder verworfen. Für
lächerlich wenige Stunden war Ziemann dein Partner. Sein Nachfolger
heißt Blum. Auch ein guter Mann, nicht so polternd wie Ziemann, ein
sehr freundlicher Spötter. Mich geht die ganze Sache eigentlich
nichts an, aber ich glaube, es ist besser, du bleibst noch ein
bisschen länger in der Truppe, die rund um die Bombe ermittelt. Das
ist besser auch für dich. Ansonsten bliebe in Bezug auf Ziemanns
Tod vermutlich das Gefühl zurück, etwas versäumt zu haben. Was
meinst du?«
»Ja, vielleicht hast du Recht«, sagte Mann.
»Blum lässt dir schöne Grüße bestellen, du sollst nach Frankfurt an
der Oder fahren. Gemeinsam mit einem Kollegen sollst du dich um den
Hintergrund des mutmaßlichen Bombenlegers kümmern. Der Mann heißt
Huu Vinh, schreib dir das auf. Blum sagte, vor allem ist die Frage
wichtig, wie der Mann an den Sprengstoff kam. Das war ein ganz
seltener.«
»C4, ich weiß.«
»Du kannst dort bei einem Kollegen wohnen. Dann wird es
billiger.«
»Ich suche mir selbst was«, sagte Mann. Er mochte die Vorstellung
nicht, mit einer fremden Polizistenfamilie zusammenzusitzen und bei
leutseligem Gespräch Schmalzbrote zu essen.
»Wie du willst. Dann pack ein paar Sachen und mach dich auf den
Weg. Der Kontaktbeamte in Frankfurt heißt Frank Ossietzky.« Ohne
Umschweife fuhr Mann in die Kastanienallee, packte ein paar Sachen
in einen Koffer und schrieb ein paar Zeilen an Katharina: Liebe Katharina, es geht mir gut. Ich musste in der
Attentatssache kurzfristig nach Frankfurt an der Oder reisen. Ich
weiß nicht, wie lange das dauern wird,
aber ich rufe dich zwischendurch
an. Er verzichtete auf die Autobahn, bummelte auf der B 1 über
Müncheberg bis nach Seelow und gab sich seiner Trauer hin. Er
kannte diesen Weg, weil er mit Katharina früher oft in den
Oderbruch nach Altlewin gefahren war. Zwischendurch hielt er auf
einem Parkplatz, rief seinen neuen Vorgesetzten Blum an und
meldete, er sei unterwegs nach Frankfurt. »Lassen Sie sich Zeit,
mein Junge«, sagte Blum. Schon wieder einer, der ›mein Junge‹ sagt,
dachte Mann zynisch. »Gibt es etwas, was ich wissen sollte?«,
fragte er. »Ja. Nun ist definitiv bewiesen, dass dieser Vietnamese
der Bombenleger war. Was eigentlich gar nicht zu dem Mann passt,
normalerweise hat er sich nämlich sehr ortsfest verhalten, verließ
die nähere Umgebung von Frankfurt nicht. Er galt als guter
Familienvater und hatte nie mit Dingen zu tun, die Leib und Leben
anderer Menschen bedrohten. Er hatte noch nicht mal Kontakte zu
Gewalttätern, Huu Vinh hat sich ganz auf das Geschäft mit
unverzollten Zigaretten beschränkt. Die Kollegen in Frankfurt legen
sich da fest.« »Was folgern Sie daraus?«
»Eine Theorie besagt, dass der Mann einen für ihn ungewöhnlich
hohen Geldbetrag geboten bekommen hat. Und dass er sich erst auf
den Weg nach Berlin machte, als er das Geld in der Hand hielt. Aber
die Kollegen, die seine Wohnung durchsucht haben, haben nichts
finden können.«
»Gut, ich rufe Sie an, wenn ich mehr weiß.«
»Der Ossietzky ist ein angenehmer Partner, Sie werden keine
Probleme mit ihm haben. Viel Erfolg.«
In Seelow machte Mann die nächste Pause, setzte sich in ein Café am
Markt und aß ein großes Eis mit Schlagsahne. Frustfraß, urteilte er
selbstkritisch, als er feststellte, dass seine Gedanken
ausschließlich um den toten Ziemann kreisten. Ziemann, du hast mein
Leben ganz schön durcheinander gebracht. Wahrscheinlich sitzt du
auf Wolke sieben und lachst dich über mich kaputt: Mann als
investigativer, einsam forschender und trauriger Detektiv
…
Er setzte seinen Weg auf der B 167 fort, bog dann aber ab nach
Falkenhagen, weil er sich daran erinnerte, dass es dort ein kleines
angenehmes Hotel gab. Er würde dort übernachten, bis Frankfurt
waren es nur noch ein paar Kilometer.
Es begann zu regnen und das Zimmer kam ihm plötzlich sehr trist
vor. Deshalb ging er hinunter in das Restaurant, bestellte sich
eine Kleinigkeit zu essen und wählte die Nummer von Frank
Ossietzky. Mann stellte sich vor und sagte, er würde morgens gegen
acht Uhr im Präsidium sein.
»Sie hätten bei mir übernachten können, Kollege.«
»Ich bin in einem kleinen Hotel in Falkenhagen«, erklärte Mann.
»Hier störe ich niemanden.« Er setzte hinzu: »Im Augenblick bin ich
lieber allein.«
Kurz darauf rief Marion Westernhage an. Ihre Stimme klang unsicher.
»Ich dachte, ich melde mich mal. Das, was mit diesem Ziemann
passiert ist, ist ja furchtbar.«
»Ja«, bestätigte Mann. »Es hat mich umgeworfen. Ich mochte ihn
sehr. Wie geht es dir?«
»Ganz normal. Mein Chef ist wieder da und hat beste Laune, weil er
ein Geschäft mit Sittko gemacht hat.«
»Ich denke, er macht dauernd Geschäfte mit Sittko.«
»Ja, ja, aber das war halb privat.« Sie machte eine Pause. »Du
musst wahrscheinlich alles an deine Kollegen weitergeben, was ich
dir erzähle. Ich meine die, die im Fall der Bankgesellschaft
ermitteln, oder?«
»Die Bankgesellschaft ist nicht mein Thema und die Geschäfte sind
mir schnurz. Solange du mir nicht sagst, dass dein Chef irgendwo
bündelweise Bares klaut …«
»Wo bist du eigentlich? Zu Hause?«
»Nein. Ich bin in Falkenhagen, in der Nähe von Frankfurt an der
Oder. Ein hiesiger Vietnamese hat die Bombe in Berlin hochgehen
lassen. Was ist das für Geschäft, das Dreher da abgeschlossen
hat?«
»Sittko hat für ihn ein halbes Dutzend ABCBaumärkte gekauft, die
jetzt in die Fonds gestellt werden sollen.«
»Und was ist daran bemerkenswert?«
»Daran ist bemerkenswert, dass diese Baumärkte vorher in Drehers
Privatbesitz waren. Also eigentlich nicht in Drehers, aber seine
furchtbare Frau ist Eigentümerin einer Baumarktkette. Hier im Haus
geht das Gerücht, dass diese Baumärkte zum Teil ziemlich beschissen
laufen. Und den Schrott hat Sittko Dreher jetzt im Auftrag der
Bankgesellschaft abgekauft.«
»Das ist doch nicht möglich«, empörte sich Mann. »Ist denn niemand
bei euch im Haus, der das anmahnt?«
Sie lachte. »Wer sollte das tun, wenn der Chef persönlich das
Geschäft absegnet? Glaubst du im Ernst, dass da noch jemand den
Mund aufmacht?«
»Aber das riecht doch nach Vorteilsnahme. Um nicht zu sagen nach
Beschiss.«
»Dieser Laden hier läuft eben wie eine Frittenbude. Wenn was Geld
bringt, wird es gemacht.«
»Wie kann so ein Geschäft Geld bringen?«, fragte er
verwirrt.
»Da hängen doch Kredite dran! Solche Geschäfte laufen immer über
Kredite und mit Krediten verdient eine Bank nun mal
Geld.«
»Davon laufen die Baumärkte aber auch nicht besser«, stellte er
sachlich fest. »Und wenn’s schief geht, muss die Bank
beziehungsweise am Ende dann der Steuerzahler für die Kredite
aufkommen.«
»Ja, so ist das. Doch das ist erst mal unwichtig. Zunächst wird das
große Rad weitergedreht und zunächst spült das Geld
rein.«
»Wenn ich dir so zuhöre, gewinne ich den Eindruck, dass ich den
falschen Beruf habe.«
Sie lachten zusammen, bis sie sagte: »Ich wünschte mir, ich wäre
bei dir.«
»Dann setz dich in dein Auto und komm her.«
»Morgen früh muss ich wieder arbeiten«, sagte sie zögerlich.
»Normalerweise wäre ich verrückt genug. Aber im Moment möchte ich
hier ungern fehlen.«
»Wieso das? Wenn Dreher doch so gute Laune hat …«
»Schon, aber es gibt Gerüchte. Dazu würde auch der Baumarkt-Deal
passen. Gertchen, der normalerweise immer gut informiert ist, sagte
heute Mittag in der Kantine, möglicherweise bereitet Dreher seinen
Absprung vor.«
»Meinst du, dass dieser Blandin ihn abschießen will?«
»Nein, nein. Ich denke, Dreher weiß von allein ganz genau, wann es
genug ist. Stört dich das eigentlich, wenn ich dich anrufe? Abends?
Was ist, wenn deine Freundin das mitkriegt?«
Er überlegte einen Augenblick und sagte dann fest: »Ruf mich an,
wann immer du willst. Ich bin schließlich erwachsen. Mach es
gut.«
Zurück in seinem Zimmer legte er sich auf das Bett und schaltete
den Fernseher ein. Irgendein Hollywood-Schinken lief, pathetisch
und dumm. Mann zappte sich durch alle Programme, fand nichts, was
ihn interessierte, und schaltete wieder aus. Dann döste er ein,
wachte um zwei Uhr auf, dachte über sich und Marion nach. Ziemann
hätte Hurra geschrien, wenn er auf Marion hätte zurückgreifen
können, auf die Person, die einer Schlüsselposition in der
Bankgesellschaft am nächsten saß. Gerne hätte Mann jetzt mit
Ziemann darüber diskutiert. Ihm wurde bewusst, dass er sich einsam
fühlte.
Es war drei Uhr, als sein Handy sich meldete. Er dachte
sekundenlang, das könne nur Marion Westernhage sein, die ebenfalls
nicht schlafen konnte. Aber es war sein Vater, der völlig betrunken
herumtrompetete, er wisse genau, dass es mitten in der Nacht sei.
Doch er fühle sich verpflichtet, seinem Sohn mitzuteilen, dass er
immer schon an ihn und seine Karriere in der Justiz geglaubt
habe.
Mann wurde scharf. »Du hast wieder gesoffen. Lass mich in Frieden,
Vater!«
»Aha, ich verstehe. Der Sohn, der es zu was gebracht hat, kennt
jetzt seinen Vater nicht mehr. Ist es so? Ist das der Dank für
alles, was ich für dich getan habe?«
»Vater, du hast nichts für mich getan. Das weißt du. Also rede
nicht so einen Unsinn.«
»Ich habe zugestimmt, dass du Jurist wirst. Oder etwa nicht? Habe
ich nicht zu deiner Tante gesagt, dass du einen kühlen Kopf hast
und als Jurist brillieren wirst?« Seine Stimme wurde weinerlich.
»Hör zu, ich komme mit einem kleinen Problem. Ich meine, du warst
ja jetzt wirklich ausführlich in den Medien zu sehen. Wegen dieser
Terroristen da. Und natürlich kam ein Fernsehjournalist zu mir,
nachdem sie rausgekriegt haben, dass du ein Mann bist, mein Sohn.
Sie bieten uns ein gutes Honorar, wenn wir gemeinsam vor die Kamera
gehen und den Leuten ein bisschen erzählen, wie das alles so war,
wie du deinen Weg gemacht hast.«
»Wie viel Vorschuss haben sie dir bezahlt?«, fragte Mann
kalt.
»Nur ein paar Hunnis, sie warten auf deine Zusage. Sie sagen, sie
zahlen zweitausend, wenn du mitmachst.«
»Vater, ich bin Staatsanwalt. Ich stelle mich nicht mit dir
zusammen vor eine Kamera, du Schweinekerl! Niemals! Und falls ich
höre, dass du irgendetwas machst, was mit mir zu tun hat, dann
kriegst du großen Zoff. Und jetzt lass mich in Ruhe!«
SECHSTES KAPITEL
»Das Einfachste ist, ich zeige Ihnen erst mal, wo Huu hauste,
und erzähle Ihnen alles, was wir wissen.« Frank Ossietzky erwies
sich als ein kühler, korpulenter Mann mit langsamen Bewegungen und
höchst misstrauischen Augen. Die Zeit war zu kurz, um Misstrauen zu
säen und Feindschaften zu gründen. Deshalb entgegnete Mann: »Wissen
Sie, ich bin durch einen Zufall in diese Geschichte hineingeraten.
Mein Feld ist eigentlich die Jugendkriminalität. Und ich weiß, dass
Sie alles, was zu klären ist, allein klären könnten. Und alles, was
Sie sagen, hätten Sie mir auch am Telefon berichten können.« »Das
sehe ich auch so«, sagte Ossietzky erleichtert. »Wir nehmen den
Opel da.« Er schloss die Tür auf, setzte sich umständlich hinter
das Steuer und aktivierte eine Funkverbindung, irgendwelche grünen
und roten Lämpchen blinkten auf. »Huu«, begann er bedächtig, »war
einer der Besten. Sie kennen das Problem, nehme ich an. Die
Vietnamesen arbeiten in Kneipen, in Küchen, in der Landwirtschaft,
sie machen Frittenbuden auf, sie verkaufen nachts Blumen in
schäbigen Betrieben, sie haben Obststände auf den Märkten. Sie sind
entwurzelt worden. In Vietnam nicht mehr zu Hause, den Deutschen
nach wie vor fremd. Einzig ihre Familien sind ein Ort der Heimat,
wie eine kleine Zelle, in der sie sich sicher fühlen. Auch Huu
hatte eine Familie. Die Kinder gehen hier zur Schule, die Frau ist
freundlich und kümmert sich. Huu und seine Familie lebten davon,
dass er Zigaretten verscheuerte. Er war sogar so etwas wie ein
Obermotze. Aber wir können keine Verbindung zwischen ihm und
irgendwelchen gewaltbereiten Kreisen herstellen.« »Ist er
aktenkundig?«, fragte Mann.
»Er war kurz in U-Haft. Es gab hier mal ’ne Phase, während der
verzweifelt versucht wurde, Abschiebungsgründe zu finden. Gott sei
Dank ohne viel Erfolg. Huu konnte den Zigarettenhandel betreiben,
weil wir es letztlich zuließen. Dafür sagte er uns bei Gelegenheit,
wo wir nachschauen mussten, wenn wir jemanden suchten. Als die
Nachricht kam, dass es Huu sein könnte, der die Bombe in Berlin
platzen ließ, habe ich gedacht, ich bin im falschen Film. Das passt
nicht zu dem Mann, das passt überhaupt nicht.«
»Ja«, murmelte Mann. »Aber er ist es gewesen. War er vielleicht
erpressbar?«
»Möglich, wissen tun wir nichts.«
»Wenn er Zigaretten verkaufte, wo machte er das?«
»Er hatte zwei Touren. Tagsüber im Wesentlichen drüben auf dem
Markt in Slubice. Nachts manchmal an den Zollstellen, also da, wo
die Fahrer ihm etwas abnehmen. Jeder kannte ihn, er war beliebt.
Viele Fahrer warteten sogar extra, bis Huu kam.« Ossietzky stoppte
den Wagen vor einer Ampel und setzte hinzu: »Ich gehe jede Wette
ein, dass er die Bombe nicht hier gebaut beziehungsweise
entgegengenommen hat, um sie dann nach Berlin zu transportieren.
Ich denke, er hat sie in Berlin bekommen und dann in das Lokal
gebracht. Seine Frau wusste von nichts, da bin ich mir sicher. Sie
ist völlig durchgedreht, als wir ihr die Nachricht
überbrachten.«
»Sie haben ihre Bleibe durchsucht?«
»Natürlich. Wir haben gestern sozusagen keinen Stein auf dem
anderen gelassen. Aber ohne was zu finden, keine Hinweise auf einen
Bombenbau, keine auf Geld, keine Spuren zu möglichen Kontaktleuten.
Ich fahre Sie dahin, damit Sie sich selbst einen Eindruck
verschaffen können.«
»Was ist mit Geld? War Huu der Typ, der ab einer bestimmten Summe
alles macht?«
»So ganz auszuschließen ist das nicht. Die Vietnamesen spielen alle
Lotto und Toto. Das ist so ein beständiger Traum, dass irgendwann
die Millionen vom Himmel fallen.«
»Was ist denn für die viel Geld?«, fragte Mann.
»Ich würde sagen, fünftausend Euro sind eine dicke Stange.
Zehntausend sind schon etwas nicht Fassbares. Und mehr könnten sie
wahrscheinlich gar nicht aushalten. Sehen Sie da, da sind die
Häuser, in denen auch Huu mit seiner Familie wohnte. Das ist eine
aufgelassene Straße, hier sollte eine neue Siedlung entstehen. Die
Häuser, es sind drei, waren schon geräumt. Dann ging der Gemeinde
das Geld aus und der Plan wurde vertagt, bis bessere Zeiten kommen.
Und schon waren Huu und seine Leute hier und richteten sich
ein.«
»In allen drei Gebäuden?«
»Nein, in zweien. Das dritte ist unbewohnbar. Wollen Sie die
Familie sehen?«
»Ja, aber Sie brauchen nicht auf mich zu warten, ich komme zu Fuß
zurück. Wahrscheinlich fahre ich dann gleich wieder nach Berlin.
Ich weiß nicht, was ich hier soll. Ich rufe Sie dann an«, versprach
Mann und stieg aus.
Im Osten waren dunkle Wolken am Himmel, aber der Wind kam aus West
und blies sehr sanft. Rechter Hand zeigten Kirchtürme die
Stadtmitte an, links standen vor dem Waldrand die kleinen Häuschen
wie freundliche helle Schatten. Mann sah noch zu, wie Ossietzky
wendete und wegfuhr. Dann machte er sich auf den Weg.
Der Trampelpfad führte über eine Wiese, die mit kleinen
Schwarzdornbüschen und mit Ginster besetzt war. Es roch sehr frisch
und kein Mensch war zu sehen.
Mann kamen Zweifel, ob er die Familie wirklich in ihrer Trauer
stören sollte. Was hätte wohl Ziemann getan? Unschlüssig musterte
Mann seine Umgebung.
Da erfasste sein Blick Gisbert Brauer. Der Mann vom
Verfassungsschutz hockte hinter einem Weißdorn und starrte
gelangweilt auf die Stadt.
Ohne Betonung sagte er: »Ich grüße den Abgesandten aus der
Hauptstadt. Was glauben Sie, was Sie hier finden können?«
»Keine Ahnung. Aber langsam stören Sie mich. Wieso tauchen Sie
immer dort auf, wo ich zu tun habe? Und was hat der
Verfassungsschutz mit alldem zu tun? Mit dem Attentat? Mit dem Tod
Ziemanns?«
Gisbert Brauer kaute auf einem trockenen Grashalm herum. »Ich folge
Ihnen nicht, wenn Sie das beruhigt. Sie wissen, dass es meine
Aufgabe ist, Informationen zu sammeln. Und ich glaube, Ziemann und
ich haben auf die gleiche Weise gedacht. Da der Vietnamese, der die
Bombe in Berlin hochgehen ließ, aus diesem Häuschen da oben stammt
und noch niemand eine Erklärung dafür hat, wieso ausgerechnet er
das tat, treffen wir beide hier zusammen. Das ist ziemlich
einfach.«
Mann ließ sich ebenfalls im Gras nieder. »Ist Gisbert Brauer
eigentlich Ihr richtiger Name oder ein Arbeitsname? Egal. Standen
Sie schon vor Ziemanns Haus, als er noch lebte?«
Brauer lächelte ironisch. »Das musste kommen.